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What the Holy Fuck?!

Buenos Aires

geschrieben von Franzi

Timo hat sich heute noch einmal körperlich betätigt und ist ein paar Mal, die Treppen in den sechsten Stock hoch und runter gelaufen. Ich hatte darauf keine Lust und wollte erst später die Treppen einmal in Angriff nehmen, um mit Timo bei einem Glas Wein den Sonnenuntergang auf der Dachterrasse zu beobachten, der dort den Palacio Barolo immer in sehr schöne Farben taucht.

 

Als ich mich gerade auf den Weg nach oben machen wollte, kam Timo in unser Zimmer, das wir seit heute auch wieder mit einer dritten Person teilen. Er meinte, er sei von einer Hostel Mitarbeiterin darauf aufmerksam gemacht worden, dass es aktuell besser sei, das Stockwerk nicht mehr zu wechseln. Bewohner aus anderen Stockwerken, darunter eine Krankenschwester aus dem vierten Stock hätten bereits nachgehakt, wer hier eigentlich warum unterwegs sei und sich insbesondere über unseren neuen Mitbewohner gewundert. Sie würden gerne vermeiden, dass die Polizei das Hostel komplett überprüft, weswegen wir uns vielleicht erst einmal besser auf unserem Stockwerk aufhalten sollten.

Wir empfanden das als merkwürdig, da wir die Ausgangssperre so verstehen, dass man das Gebäude nicht mehr verlassen darf. Das Stockwerk empfinden wir als sehr übertrieben, da die Dachterrasse ebenso ausgestorben ist wie das restliche Hostel und auch auf der Treppe kaum je jemand zu sehen ist.

 

Da die Aussage der Mitarbeiterin sehr vage war, machte ich mich auf den Weg zur Treppenhaustür gegenüber der Rezeption. Sogleich wurde ich angesprochen, ob ich nach oben gehen möchte und ob ich so lieb wäre, bitte unten zu bleiben, oben würde etwas vor sich gehen mit einer Krankenschwester und einem Polizisten. Ich hatte Timo so verstanden, dass die Krankenschwester hier wohnen würde. War der Polizist ihr Mann? Oder handelte es sich doch um einen Einsatz der beiden im Dienst? Ich war irritiert, fragte aber nicht weiter nach.

Um dennoch frische Luft zu schnappen, trat ich stattdessen auf den Balkon hinter der Rezeption, von dem aus wir in der Vergangenheit bereits einige Demonstrationen und Paraden beobachteten konnten. 

Etwas frustriert trank ich den Wein direkt aus der Flasche. Statt vorbeifahrende Präsidenten erblickte ich nun das Buenos Aires der Ausgangssperre. Die Busse fuhren noch. Manche hatten Warnplakate an die Türen geklebt. Einer hatte sogar Zettel an den zwei vorderen Sitzen in Fahrernähe angebracht. Ich kann nur mutmaßen, dass darum gebeten wurde, diese Plätze aus Rücksicht vor dem Fahrer frei zu lassen. Übrigens gilt seit Kurzem die Vorgabe, dass nur noch sitzende Passagiere befördert werden dürfen, vermutlich damit sich weniger Menschen durch das Anfassen der Haltestangen infizieren oder aber - was wohl wahrscheinlicher ist - damit die Busse nicht überfüllt Menschenmassen transportieren müssen, die zu engen Kontakt miteinander haben. Der Eindruck heute Abend ist aber, dass es dieser Maßnahme nicht mehr Bedarf. Kaum ein Mensch sitzt in den Bussen. Taxen fahren noch. Ebenso sehr wenige private Autos. Ein paar Menschen sind ebenfalls unterwegs. Einige von ihnen fallen ganz demonstrativ nicht unter die Ausnahmeregelungen der Ausgangssperre. Darunter drei junge Männer, die auf einer Bank in der Nähe einer Bushaltestelle Platz genommen haben und Bier trinken. Ein paar Polizei-Streifen fahren vorbei, aber niemand beachtet sie. 

Timo gesellt sich frisch geduscht zu mir. Gemeinsam versuchen wir uns so weit wie möglich über das Geländer zu lehnen, um die letzten Sonnenstrahlen über dem Parlament zu erblicken. Vergeblich. Die Bäume verdecken das Gebäude vollständig. Zumindest der Himmel verfärbt sich eindrucksvoll. 

 

Plötzlich fährt ein Feuerwehrauto vor. Menschen steigen aus. Durch ein Funkgerät scheint eine verzerrte Stimme die Lage auf Spanisch zu beschreiben. Ich verstehe nur das Wort victima (dt.: Opfer). Aber sonst nichts weiter. Geduldig machen sich die Leute fertig. Ein bewaffneter Sicherheitsmann beobachtet die umliegende Lage. Eine andere Frau scheint Polizistin und auch eher für die Rückendeckung verantwortlich zu sein. Ein Dritter assistiert zwei Männern, die sich nach und nach komplette Schutzausrüstungen anziehen. Plastikanzug, Gummihandschuhe, Maske. 

Derweil kommt eine Motorrad-Streife vorbei und bedeutet den drei Männern auf der Bank, sie sollen den Ort verlassen. Ich war kurz rein gegangen, Timo meint, sie hätten sich sehr abfällig verhalten und deutlich ihr Unverständnis ob der aktuellen Maßnahmen zum Ausdruck gebracht. Schließlich ziehen sie weiter. Die Streife fährt weg. Auf der anderen Straßenseite lassen sich die Männer auf der nächstgelegenen Bank erneut nieder. Wir sind fassungslos. 

 

Die mutmaßlichen Feuerwehrleute betreten in Schutzkleidung das Gebäude des Hostels. Wir sehen durch die Glastür ihre Schatten den ersten Stock passieren.

Dann nichts. Lange nichts.

Ein obdachlos wirkender Mann auf der Straße tritt nahe an die Polizisten vor dem Feuerwehrauto heran. Wir verstehen nicht, was er sagt. Sie versucht, ihm Abstand zu gebieten. Ebenso hatten die anderen Sicherheitskräfte es zuvor mit einem uns unbekannten Mann aus unserem Gebäude gehandhabt. Während er sich an die Vorschriften gehalten hatte, dachte der mutmaßlich Obdachlose gar nicht daran. Geschickt hielt die Polizisten den nicht übermäßig aufdringlichen Mann von sich fern, indem sie einen Stromverteilerkasten zwischen sich und den Herrn brachte. Ihr Kollege sprach nun auch deutliche Aufforderungen zum Weitergehen aus und schließlich zog er von Dannen. 

Wir fragten uns, wie es wohl in diesen Zeiten am besten möglich sei, sich vor Gefahren uneinsichtiger, möglicher Coronavirus-Infizierter zu schützen. Geschult werden die meisten Sicherheitskräfte eher für den Fall eines direkten Angriffs sein. Was aber, wenn Menschen ab nun bereits aus einem Meter Entfernung ein gesundheitliches Risiko darstellen? Man sehe sich Menschen wie den 23-Jährigen Niederländer an, der heute einen Polizisten anhustete, drohte, ihn mit  Coronavirus zu infizieren und dies nun mit zehnwöchiger Haft bezahlt. Die Richter werteten die Tat unter anderem als  "Bedrohung mit Tod oder schwerer Körperverletzung". Der Mann trug den Virus offenbar nicht in sich, was ihm natürlich aber nicht auf der Stirn geschrieben stand, das würde der Welt das Leben gerade erheblich erleichtern.
(https://www.spiegel.de/panorama/justiz/coronavirus-mann-in-den-niederlanden-hustet-polizisten-an-zehn-wochen-haft-a-59863f84-4dd1-4424-a155-e970c885eeed)

Während dieser Mann offensichtlich aggressiv war, sind andere schlicht, sagen wir, ignorant. So z.B. Fußballprofi Diego Costa, der kürzlich absichtlich in die Richtung von Journalisten hustete.

(https://www.kicker.de/772058/artikel)

Was tut man also, um sich zu schützen? Mein erster Gedanke war, mit einem Schlagstock einerseits grundsätzlich mehr physische Distanz zum Gegenüber aufbauen und so auf Abstand halten zu können, andererseits gleichzeitig eine Drohung in der Hand zu haben, die besagt: "Komm bloß nicht noch näher". Ein beängstigender Gedanke. Wahrscheinlich wäre dieses Vorgehen im Zweifelsfall nicht wirklich zielführend und wer weiß, wie solche Auseinandersetzungen enden, wenn erst einmal einer eine  Waffe in der Hand hat.

Ich hoffe also, dass die Sicherheitskräfte dieser Welt auch unter Stress bessere Lösungen finden als ich bisher. 

 

In der Zwischenzeit kamen erneut ein paar Mal Streifen an den drei Männern auf der Bank vorbei. Zu unserer Befriedigung hielten endlich zwei Polizisten an. Es dauerte eine Weile,  die Männer davon zu überzeugen, ihre Bank zu verlassen. In der Zwischenzeit kam ein dritter Polizist dazu. Er schlug zur Begrüßung mit einem seiner Kollegen Ellenbogen an Ellenbogen. Wir werteten das als Zeichen, dass die Notwendigkeit neuer gesellschaftlicher Verhaltensformen grundsätzlich verstanden wurde. Obwohl es uns schleierhaft war, warum die Beamten bis auf einen Meter an die Missachter der Ausgangssperre herantraten und auch unter sich die Notwendigkeit sahen, sich soweit zu nähern, dass ihre Ellenbogen einander berühren konnten. 

Der dritte Beamte war weiterhin mit den Männern beschäftigt und nahm seinen hinzu gestoßenen Kollegen nicht wahr. Dieser tippte ihn deswegen mit der Hand am Arm, bis er die gewünschte Aufmerksamkeit erhielt und ihm bedeuten konnte, ebenfalls mit den Ellenbogen einzuschlagen. Das zeigte sehr eindrucksvoll. dass der Mann offenbar vorgegebene Regeln befolgte, den Sinn, Zweck und Hintergrund offenbar aber überhaupt nicht verstanden hatte. 

Während wir noch kopfschüttelnd da standen, öffnete sich die Tür unseres Gebäudekomplexes und die Männer in Schutzanzügen trugen einen großen, schwarzen, länglichen Plastiksack heraus, den sie hinten ins Auto luden. Die Hostel-Mitarbeiterin von vorhin stand nun mit uns auf dem Balkon und fragte noch halbherzig, ob dies vielleicht Kleidung sein könnte. Leider dachten wir alle an etwas anderes. Die Herren zogen sich wieder aus, einer hatte ein paar Papiere in der Hand. Wir rechneten schon halb damit, dass nun das gesamte Gebäude unter komplette Quarantäne gestellt würde, sodass nicht einmal der Gang zum Lebensmitteleinkauf erlaubt bliebe. Doch die Männer stiegen ein, ohne noch etwas zu verkünden. Einer desinfizierte noch großzügig den Bürgersteig, wo sie sich aufgehalten hatten. Dann spuckte er auf den Boden, stieg ein und weg waren sie. Wenn nicht ein kleiner weißer Plastikhandschuh auf der Straße zurückgeblieben wäre, hätte man meinen können, wir hätten alles nur geträumt.

 

Uns treiben nun mehrere Gedanken um. Zum einen wissen wir gar nicht, ob es wirklich eine Leiche war, auch wenn davon stark auszugehen ist. Zum anderen gibt es weiterhin vielfältige Todesursachen auf der Welt, es kann also alles mögliche gewesen sein, nicht zwingend notwendig eine Coronavirusinfektion. Doch egal, was konkret passiert ist, der Coronavirus fühlt sich plötzlich nicht mehr weit weg auf der anderen Seite der Welt in Wuhan an. Als das Virus in Europa Einzug hielt, kam es uns schon sehr viel konkreter vor, insbesondere durch meine engen Verbindungen ins am schwersten betroffene Land Italien. Doch auch Europa war für unseren Alltag fast ebenfalls so weit weg wie Wuhan. Als der Virus in Südamerika ankam, wurden wir schon aufmerksamer. Doch nun fühlt es sich das erste Mal so an, als könnte es auch direkt hier bei uns im Haus sein. Wir befolgen seit einiger Zeit alle Sicherheits- und Hygienehinweise, aber es fühlte sich eher prophylaktisch an. Wir haben auch nun keine Angst. Aber wir sind sehr wachsam.

Ein anderer großer Gedanke dreht sich um die Einsatzkräfte. Wie kann ein Mann, der in vollkommener Schutzausrüstung offenbar stark an seiner persönlichen Gesundheit interessiert ist, sich so wenig für Infektionsrisiken Anderer interessieren, auf den Boden spucken und benutzte Einweghandschuhe auf die Straße werfen? Ich denke, das Problem ist, das die meisten Menschen denken: "Mich betrifft das ja nicht." "Ich hab das ja eh nicht." "Die Wahrscheinlichkeit, dass ich es habe ist schon sehr gering und selbst wenn, ich bin ja jung, mir kann das Nichts anhaben." Ja es stimmt, die Wahrscheinlichkeit, dass man es hat, ist gering. Und auch scheint es so, als würden junge, fitte Menschen bessere Chancen auf einen milden Verlauf haben, als Ältere und Vorerkrankte. Dennoch ist es aus meiner Sicht eine Frage des Respekts der Gesundheit und des Lebens Anderer, sich selbst bestmöglich vor einer Ansteckung zu schützen - und Andere sowieso! Auch wir haben uns Videos dazu angesehen, wie man am besten Hände wäscht. Das klingt erst einmal albern, aber ich habe z.B. nicht jedes Mal explizit die Fingerkuppen und Bereiche unter den Nägeln gesäubert, doch Überraschung: Genau dort scheinen Viren wohl besonders gerne zu leben!
Zudem sollte man auch bedenken, dass jeder - auch man selbst! - das Virus haben könnte. Ich bin vor Eintritt der Ausgangssperre nur noch mit Buff vor Nase und Mund aus dem Haus gegangen. Denn sollte ich unbemerkt und symptomfrei infiziert sein, kann ich so das Risiko meiner Mitmenschen, sich bei mir zu inifizieren verringern. Und das sogar im doppelten Sinne! Nicht nur, dass mein Buff eine physische Barriere für etwaige Viren darstellt, zudem wirke ich offenbar auch gruselig auf meine Mitmenschen, sodass sie mehr Abstand halten.

Es ist ätzend, auf all diese Dinge zu achten. Es ist ätzend, das Haus nicht verlassen zu können, egal ob es wegen einer Anordnung oder einer Empfehlung ist. Aber es ist notwendig, sich solidarisch zu zeigen! Alles andere könnte ich bei dem Gedanken an die vielen tausend Opfer des neuartigen Coronavirus, die teilweise isoliert und alleine sterben und bei dem Gedanken an all meine Lieben in Italien und Deutschland, die sicherlich nicht alle außerhalb der Risikogruppen sind, nicht mit mir vereinbaren.

Ich sage nicht, dass wir panisch werden sollten. Ich sage auch nicht, dass wir diese Krise nicht überstehen. Ich sage nur, dass es an der Zeit ist, dass jeder versteht, dass jeder einzelne tun muss, was er kann, damit wir die Krise gemeinsam wieder beenden können.

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Kommentare: 1
  • #1

    Timo (Samstag, 21 März 2020 17:27)

    Nachtrag hierzu: Ich habe heute den Hostelleiter zu diesem Fall befragt. Er hat die Bekannten aus dem 4. Stock angerufen. Dort wird eine Pension betrieben, also eine Unterkunft für Leute, die monatlich eine Miete für eine Einzimmerwohnung mit Gemeinschaftsbad und -küche zahlen. Dort hatte ein älterer Herr die Tür nicht mehr geöffnet. Nachmittags kam dann eine Ambulanz und ein Polizist vorbei, um seinen Tod festzustellen. Abends transportierte ihn dann die Feuerwehr in dem Sack ab, was wir beobachteten. Unser Hostelleiter meinte, dass die Maßnahmen mit den Schutzanzügen einem gewissen Protokoll folgen und nichts mit Corona zu tun haben. Auch im Internet haben wir nichts von einem neuerlichen Toten in BA gefunden.